Rudolf Langthaler diskutiert einen kürzlich in der Tagespost erschienenen Artikel zu Kant
Der „Tagespost“-Redakteur Sebastian Ostritsch hat auf die von Magnus Striet in einem Interview betonten Kant-Bezüge sehr kritisch-ablehnend reagiert: „Das Werk des Aufklärers“ Kant werde von Striet als „Rammbock gegen das Lehramt“ verwendet, er werde unbedachterweise als „Säulenheiliger“ mißbraucht, womit man sich überdies „einer unphilosophischen Überhöhung Kants“ schuldig mache. Die „Tagespost“ wirft Striet überdies eine „Doppelzüngigkeit“ vor, die „weder mit dem katholischen Glauben noch mit der Philosophie Kants vereinbar“ sei; deshalb sei Striet eher den „theologischen Nichtverstehern“ Kants zuzuordnen.
Hier geht es zum erwähnten Artikel der Tagespost.
Während Ostritsch für seine sehr knapp gehaltene diesbezügliche „Argumentation“ „Platzgründe“ geltend macht, wird Striet mangelnde argumentative Ausführlichkeit in dessen Interview mit „katholisch..de“ zum Vorwurf gemacht: „Was Striet schuldig bleibt, ist zweierlei. Zum einen wird. Zum einen werde von Striet „bloß insinuiert, aber nicht begründet, dass das Lehramt unvernünftig ist. Zum anderen wird Kants eigene Philosophie mit keinem Wort der kritischen Selbstüberprüfung unterzogen, die in seinem Namen so offensiv gefordert wird.“ Indes hat Striet andernorts – ein kurzes Interview ist dafür freilich nicht der richtige Ort – durchaus auch kritische Rückfragen an Kant gerichtet, die auch zeigen, dass bei ihm von „Kant als Dogma“ überhaupt nicht die Rede sein kann Schon diese von der „Tagespost“ gewählten Titel „Kant als Dogma“ und „Kant und seine theologischen Nichtversteher“ lassen der polemischen Absicht freien Lauf… Striets Kant-Verständnis wird als weithin unhaltbar verworfen. Indes, der von Ostritsch beanspruchte Nachweis, „wie wackelig der Boden ist, auf dem Kantianer wie Striet stehen“, bewegt sich selbst nicht nur auf „wackeligem“, sondern geradezu auf „brüchigem“ Boden.
Im Folgenden seien einige Argumente genannt, weshalb diese gegen den Freiburger Theologen gerichtete Polemik weithin völlig haltlos ist: Entgegen dem vom philosophischen Sprachrohr der „Tagespost“ an die Adresse Striets gerichteten Vorwurf einer bloßen „Schmalspurversion des Aufklärers“ Kant soll deshalb Kant selbst in einigen längeren und markanten Zitaten zu Wort kommen, die die Tagespost-Einwände entkräften.
Kantische Position und katholisches Lehramt: Eine Unvereinbarkeit in der Frage der Gottesbeweise
Zu Recht betont Ostritsch zunächst „eine klare Unvereinbarkeit“ zwischen Kants Position und dem katholischen Lehramt hinsichtlich der „Gottesbeweise: Denn für Kant war klar, „dass für das Dasein des Urwesens, als einer Gottheit… schlechterdings kein Beweis in theoretischer Absicht, um auch nur den mindesten Grad des Fürwahrhaltens zu wirken, für die menschliche Vernunft möglich sei; und dieses aus dem ganz begreiflichen Grunde: weil zur Bestimmung der Ideen des Übersinnlichen für uns gar kein Stoff da ist, indem wir diesen letzteren von Dingen in der Sinnenwelt hernehmen müssten, ein solcher aber jenem Objekte schlechterdings nicht angemessen ist, aber, ohne alle Bestimmung derselben, nichts mehr als der Begriff von einem nichtsinnlichen Etwas übrig bleibt, welches den letzten Grund der Sinnenwelt enthalte, der doch kein Erkenntnis (als Erweiterung des Begriffs) von seiner inneren Beschaffenheit ausmacht.“ (V 597) [1] Kant hat bekanntlich eben nicht nur den „ontologischen Gottesbeweis“, sondern gleichermaßen den „kosmologischen“ und den „physikotheologischen Gottesbeweis“ (auf den sich, in Gefolgschaft des Thomas v. Aquin, die Argumentation des katholischen Lehramtes nach wie vor stützt) verworfen. Völlig unbegründet bleibt deshalb die Behauptung: „Bereits [!] dieser Hinweis [Ostritschs auf die von Thomas v.Aquin vertretene „Erkennbarkeit Gottes auf dem Weg der Erfahrung“] dürfte deutlich machen: Die Argumente der vorkantischen Philosophie lassen sich nicht mit einer bloßen Beschwörung des Namens „Kant“ widerlegen.“ Von einer solchen „Beschwörung“ kann bei Striet nicht die Rede sein, auch sind die Argumente der vorkantischen Philosophie gar nicht sein Thema. Nicht einmal andeutungsweise wird von Ostritsch seine These begründet, dass „Kants Kritik an der rationalen Gotteserkenntnis fehlgeht“.
Kant hat sich bekanntlich auch für eine „Beschränkung der Gültigkeit des moralischen Beweises“ (§88 der Kritik der Urteilkraft) ausgesprochen, obwohl er in der Tat die postulierte Annahme des „Daseins Gottes“ für „moralisch notwendig“ erklärte (wie auch Striet ausdrücklich in jenem Interview betont!), weil dies einem unabweisbaren „Vernunftbedürfnis“ – einem „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ – entspricht und nur so auch dem kantischen Postulat: „ich will, dass ein Gott… sei“ , wovon das Vernunftinteresse „nichts nachlassen darf“ (!) (IV 277f), genügt. Insofern betont Ostritsch mit einem gewissen Recht: „Eben daher ist der Glaube an Gott für Kant nicht bloß Ausdruck einer ‚Sehnsucht‘, sondern ein Erfordernis der Vernunft“. Dies gilt freilich nur, wenn man diese „Sehnsucht“ eher als einen bloß „psychologischen“ Ausdruck versteht, und nicht, wie eben Kant, als ein „Bedürfnis der fragenden Vernunft“. In diesem Sinne hat es allerdings offensichtlich Magnus Striet verstanden, wenn er Gott als „Sehnsuchtswort“ bezeichnet (und dabei vermutlich an M. Horkheimers berühmtes Interview über „Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen“ gedacht) hat. Ostritschs scharfe diesbezügliche Kritik beruht auf einem leicht auszuräumenden Missverständnis, läuft also ins Leere…
Kritische Reflexionen über Kant, das katholische Lehramt und die Freiheit des Denkens
Magnus Striet hat für Kants Problematisierung des „stellvertretenden Sühnetods Jesu“ gewiss großes Verständnis gezeigt: „Kant hat in sehr scharfer Weise das Konzept eines stellvertretenden Sühnetods Christi einer Kritik unterzogen – und ich meine auch berechtigterweise.“ Ostritsch quittiert dies – bezeichnenderweise! – lediglich damit: „Denn als katholische Christen müssen [!] wir glauben, was der heilige Paulus im 1. Korintherbrief (15,3) scheibt: „Christus ist für unsere Sünden gestorben, gemäß der Schrift.“ Dieses „Glauben-müssen“ erinnert doch sehr an Kants Kritik an dem „da steht‘s geschrieben“: IV 767) eines bloßen „Autoritätsglaubens“, wogegen sich seine „aufgeklärte Denkungsart“ richtet, gegen die eine solche Berufung auf das „da steht‘s geschrieben“ nichts ausrichten kann, weil ein bloßer Geschichtsglaube eben „tot an ihm selber“ bleiben muss. Dies impliziert auch Kants entschiedenen Einspruch, wenn etwa „z. B. im theologischen Fache … buchstäblich ‚Glauben’, ohne zu untersuchen (selbst ohne einmal recht zu verstehen), was geglaubt werden soll, für sich heilbringend sei“ (VI 295), gefordert wird. Gegen das vom Tagespost-Autor propagierte „Glauben-Müssen“ steht jedenfalls auch Kants Anspruch, dass „die Vernunft aber ihrer Natur nach frei ist, und keine Befehle, etwas für wahr zu halten (kein crede sondern nur ein freies credo), annimmt“ (VI 282).
Kant kritisierte jedenfalls unbeirrbar die „sehr wohltätige Täuschung, durch vorgeblich heilige, von Gott selbst eingegebene Lehren den Verstand mechanisch zu leiten, heilige Schriften, die der Lehrer nicht einmal verstehen, noch weniger beurteilen kann, ihn doch zu kultivieren und als Hirt eine Herde aus dem Volk zu machen.“ (Refl. 8094, AA XIX, 639) Auf die „Tagespost“-Kritik trifft offenbar genau Kants Kritik zu: „Von dem Punkte also, wo der Kirchenglaube anfängt, für sich selbst mit Autorität zu sprechen, ohne auf seine Rektifikation durch den reinen Religionsglauben zu achten, hebt auch die Sektiererei an; denn da dieser (als praktischer Vernunftglaube) seinen Einfluss auf die menschliche Seele nicht verlieren kann, der mit dem Bewusstsein der Freiheit verbunden ist, indessen dass der Kirchenglaube über die Gewissen Gewalt ausübt, so sucht ein jeder etwas für seine eigene Meinung in den Kirchenglauben hinein oder aus ihm heraus zu bringen.“ (VI 318).
Auch hier gilt wohl Kants Vermutung, dass die „theologischen Geschäftsmänner“, „wenn sie aufgefordert würden, sich förmlich zu erklären, ob sie für die Wahrheit alles dessen, was sie auf biblische Autorität geglaubet wissen wollen, mit ihrer Seele Gewähr zu leisten, sich getraueten, sie wahrscheinlicher Weise sich entschuldigen würden“. Wohl im Sinne Kants fragt auch Striet: „Und warum soll nicht theologisch und kirchenamtlich doch noch Korrekturbedarf erkannt werden?“ Ostritsch begnügt sich freilich – argumentationslos – mit einer Kritik an der von Striet vertretene These, dass „wenn sich eine klassische katholische Dogmatik mit Kants Anfragen auseinandersetzte,“ diese „vermutlich einen erheblichen Korrekturbedarf an historisch gewachsenen Denkmustern bemerken“ würde, was Striet offenbar in diesem Kontext besonders auf die Lehren vom „stellvertretenden Sühnetod Jesu“ und der „Erbsünde“ bezieht. Dagegen vermisst Ostritsch die Begründung dafür. „dass das Lehramt unvernünftig ist“ – jedoch versäumt er just das, was er selbst fordert: „Was zählt, sind Argumente.“
Energisch kritisierte Kant den Gewissenszwang, wonach „in Sachen der Religion sich Bürger über andere zu Vormündern aufwerfen und, statt [einsichtigem] Argument, durch vorgeschriebene mit ängstlicher Furcht vor der Gefahr einer eigenen Untersuchung begleitete Glaubensformeln, alle Prüfung der Vernunft durch frühen Eindruck auf die Gemüter zu verbannen wissen“ (III 280) Wohl in diesem Sinne merkt Striet an: „Wenn man sich erst einmal auf das Autonomiedenken eingelassen hat, so kann man lehramtliche Überzeugung nicht mehr nur deshalb übernehmen, weil das Lehramt diese ausformuliert hat. Stattdessen muss man selbst prüfen, ob die vorgetragenen Gründe überzeugen. Wenn sie das nicht tun, darf man sie nicht übernehmen. Das ist Kant“ – eine Auffassung, die Ostritsch lediglich mit der spöttelnden Bemerkung kommentiert: „der Mief des Lehramts soll dem frischen Wind der Aufklärung weichen“.
Die Tagespost-Kritik an dem angeblich von Striet gekürzten „Schmalspur-Kant“ ignoriert völlig, dass Striet lediglich der kantischen Aufforderung zum „öffentlichen Gebrauche seiner eigenen Vernunft“ folgt – d.i. derjenige, „den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserwelt macht“ – denn auch der Theologe „als Gelehrter hat…volle Freiheit, ja sogar den Beruf dazu, alle seine sorgfältig geprüften und wohlmeinenden Gedanken über das Fehlerhafte in jenem Symbol, und Vorschläge wegen besserer Einrichtung des Religions- und Kirchenwesens, dem Publikum mitzuteilen.“ Er „genießt einer uneingeschränkten Freiheit, sich seiner eigenen Vernunft zu bedienen und in seiner eigenen Person zu sprechen.“ (VI 55ff) Die gegen Striet gerichtete Polemik läuft deshalb geradewegs auch auf eine Absage an die „aufgeklärte Denkungsart“ Kants hinaus…– ein „Schmalspur-Kant“?
Striet beherzigt also lediglich die Ermutigung Kants, „seine Zweifel, die man sich nicht selbst auflösen kann, öffentlich zur Beurteilung auszustellen, ohne darüber für einen unruhigen und gefährlichen Bürger verschrien zu werden. Dies liegt schon in dem ursprünglichen Rechte der menschlichen Vernunft, welche keinen anderen Richter erkennt, als selbst wiederum die allgemeine Menschenvernunft, worin ein jeder seine Stimme hat; und, da von dieser alle Besserung, deren unser Zustand fähig ist, herkommen muss, so ist ein solches Recht heilig, und darf nicht geschmälert werden.“ (II 640) Die „unbedingte Nötigung, etwas zu glauben, was nur historisch erkannt werden, und darum nicht für jedermann überzeugend sein kann“, sei „ein für [„selbstdenkende“ und] gewissenhafte Menschen noch weit schwereres Joch…, als der ganze Kram frommer auferlegter Observanzen immer sein mag, bei denen es genug ist, dass man sie begeht, um mit einem eingerichteten kirchlichen gemeinen Wesen zusammen zu passen“ (IV 852).
Striets Bedenken folgen also lediglich dem von Kant geltend gemachten Argument: „Wenn die Quelle gewisser sanktionierter Lehren historisch ist, so mögen diese auch noch sehr als heilig dem unbedenklichen Gehorsam des Glaubens anempfohlen werden; die philosophische Fakultät ist berechtigt, ja verbunden, diesem Ursprunge mit kritischer Bedenklichkeit nachzuspüren“ (VI 296) – schon deshalb, weil doch „über historische Glaubenslehren der Streit nie vermieden werden kann“ (IV 777). Dies impliziert, dass „nur dadurch, dass Gelehrte [der Schriftauslegung] ihre Auslegungen jedermanns Prüfung aussetzen, selbst aber auch zugleich für bessere Einsicht immer offen und empfänglich bleiben, sie auf das Zutrauen des gemeinen Wesens zu ihren Entscheidungen rechnen können.“ (IV 776 f). Und genau darauf zielt wohl auch der von Striet gegenüber dem kirchlichen Lehramt geltend gemachte „Korrekturbedarf“. Dies sollte für einen kritischen Philosophen eher selbstverständlich sein: Kein Streit um Striet!
Kant und die Herausforderung der traditionellen Sexualmoral
Besonderer Tagespost-Kritik ist Striets These ausgesetzt: „Und wenn man sich auf Kants Autonomiemoral einlässt, so gerät man in einen schweren Konflikt mit dem, was sich bis heute in Fragen der Sexualmoral im Weltkatechismus findet.“ Damit bezieht Striet sich offensichtlich primär auf Fragen der Empfängnisverhütung, aber auch auf das Thema „Homosexualität“ – „Gender“ ist (noch) gar kein Thema des „Weltkatechismus“. Dem begegnet sein Tagespost-Kritiker mit dem entschiedenen Einwand: „Wer die Sexualmoral der katholischen Kirche loswerden oder auch die Notwendigkeit des Menschen, sich auf Gott zu beziehen, aufweichen möchte, der muss sich nach einem anderen Gewährsmann als Immanuel Kant umsehen.“ Dieser gut gemeinte Rat legt es freilich nahe, sich diesbezüglich doch noch einmal bei Kant selbst ein wenig genauer umzusehen.
Ostritsch stützt seine Argumentation zu dem von ihm wiederholt bevorzugten Beispiel der nach Kant verbotenen „Selbstbefriedigung“ zunächst zu Recht auf dessen Argumentation, dass letztere bedeute, sich selbst (seine Person) „zum bloßen Mittel der Lustgewinnung“ zu degradieren, „indem er sich bloß zum Mittel der Befriedigung tierischer Triebe braucht“ (IV 558), was ihm zufolge freilich der „menschlichen Würde“ zuwiderläuft. Kant rekurriert diesbezüglich (so wie in dem von Ostritsch ebenfalls angeführten „Lüge“-Verbot) allerdings ausschließlich auf („würde-bezogene“) Gründe der „reinen praktischen Vernunft“, d.i. auf die „Vernunftgesetzgebung“, nirgendwo wird dabei die Berufung auf göttliche Gebote strapaziert: Schon dies widerspricht freilich der vom „Tagespostler“ beiläufig vertretenen Auffassung. dass Kants „Konzeption einer autonomen Moral letztlich doch keine Basis für objektiv verbindliche Pflichten liefert.“
Ostritsch beruft sich auf den von ihm in Sachen „Sexualmoral“ bemerkenswerterweise beanspruchten „Gewährsmann Kant“, d.h. auf dessen Argument: „So wie die Liebe zum Leben von der Natur [!] zur Erhaltung der Person, so ist die Liebe zum Geschlecht von ihr zur Erhaltung der Art bestimmt“ (IV 556) (warum dieser Satz „liberalen Moraltheologen schwer missfallen“ soll, wie Ostritsch insinuiert, ist unerfindlich): ergänzend dazu heißt es freilich sodann bei Kant: „d i. eine jede von beiden ist Naturzweck, unter welchem man diejenige Verknüpfung der Ursache mit einer Wirkung versteht, in welcher jene, auch ohne ihr dazu einen Verstand beizulegen, diese doch nach der Analogie mit einem solchen, also gleichsam absichtlich Menschen hervorbringend gedacht wird.“ (IV 557f) Jene „von der Natur“ bestimmte „Liebe zum Leben“ ist nach Kant freilich von der „moralischen Liebe“ zu unterscheiden, die allein dem „Vernunftgesetz“ folgt. Dies führt diesbezüglich auch auf die „kasuistische Frage“: „Von wo an kann man die Einschränkung einer weiten Verbindlichkeit zum Purism (einer Pedanterei in Ansehung der Pflichtbeobachtung, was die Weite derselben betrifft) zählen, und den tierischen Neigungen , mit Gefahr der Verlassung des Vernunftgesetzes, einen Spielraum verstatten?“ (IV 559)
Freilich kann und soll die „Geschlechtsneigung“ mit der „moralischen Liebe,… wenn die praktische Vernunft mit ihren einschränkenden Bedingungen hinzukommt, in enge Verbindung treten“ (IV 559). Ebendies ist nach Kant jedoch nur im „ehelichen Verhältnis“ der Fall: Denn für die (außer-eheliche) geschlechtliche Verbindung müsse gelten, was an kantischen Maßstäben moralisch strikt verboten ist: nämlich sich selbst zum bloßen Mittel zu degradieren und sich damit der Personenwürde zu begeben, und auch den Anderen als Mittel zu verwenden. Im „ehelichen Verhältnis“, so Kant, machen hingegen sehr wohl „die Eheleute im commercium sexuale voneinander einen genuss-orientierten Gebrauch – so, dass einer im Genusse des anderen sich dessen unmittelbar zu seiner Belustigung bedient“. „Wenn nun die dingliche Art des Gebrauchs den ein Mensch von den Geschlechtsorganen eines Andern unmittelbar zu seiner Belustigung (nicht zu anderen Zwecken) macht, Genuss genannt wird, so ist das der der Handlung und dem Gegenstande selbst gerade angemessene Ausdruck.“ Dies bedeutet, „dass der Mensch gleich als eine Sache dem Anderen nicht seiner Persönlichkeit nach zum Mittel seiner Absicht sondern auf dingliche Art unmittelbar zur Lust eines anderen zu dienen befugt ist, wenn er sich nur den Bedingungen unterwirft, unter denen, indem er sich einer anderen Person als das Seine hingibt, er doch diese und dadurch auch sich selbst wechselseitig in der Gemeinschaft des Leibes erwirbt: welches die Ehe ist.“ (AA XX 464).
Kant hat die Berufung auf die von Ostritsch propagierten „natürlichen Zweckmäßigkeiten“ im Sinne der Verbindlichkeit des „Vernunftgesetzes“ freilich klar relativiert.[2] Diesbezüglich verdient auch ein Passus aus Kants „Eherecht“ besondere Aufmerksamkeit (IV 390): „Die natürliche Geschlechtsgemeinschaft (commercium sexuale) ist nun entweder die nach der bloßen tierischen Natur [!]… oder [!] nach dem Gesetz. Die letztere ist die Ehe (matrimonium), d.i. die Verbindung zweier Personen verschiedenen Geschlechts zum lebenswierigen wechselseitigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften. Der Zweck, Kinder zu erzeugen und zu erziehen, mag immer ein Zweck der Natur [!] sein, zu welchem sie die Neigung der Geschlechter gegeneinander einpflanzte; aber dass der Mensch, der sich verehelicht, diesen Zweck sich vorsetzen müsse [!], wird zur Rechtmäßigkeit dieser seiner Verbindung nicht erfordert [!]; denn sonst würde, wenn das Kinderzeugen aufhört, die Ehe sich zugleich von selbst auflösen“ (so der offenbar auch in diesen Fragen recht nüchterne Philosoph). Zweck ist also nicht die Kinderzeugung, sondern die Eheleute machen sich durchaus auch zum Mittel im Dienste des selbstzweckhaften Genusses und „Verzehrs“. Der primäre Sinn der Ehe ist also nicht mehr durch die Orientierung an Nachkommenschaft als dem bloßen „Zweck der Natur“ (!), d.i. der „natürlichen Zweckmäßigkeit“, auch nicht durch die nutzen-orientierte „gegenseitige Hilfe der Geschlechter in der Ehe“ definiert, sondern folgt offenbar noch anderen Verbindlichkeiten in der „enthusiastischen Zweisamkeit“ einer „moralischen Liebe“, wie Kant offenbar durchaus einräumt….
Ein wenig anders lautet freilich die Begründung des Ehe-Zwecks in dem von Ostritsch gern angeführten „Katechismus der katholischen Kirche“, wo es heißt: „Sexuelle Beziehungen sind menschlich, wenn und insoweit sie die gegenseitige Hilfe der Geschlechter in der Ehe ausdrücken und fördern und für die Weitergabe des Lebens offen bleiben.” „Weil [!] die Ehepaare die Aufgabe haben, die Folge der Generationen zu garantieren, und deshalb von herausragendem öffentlichen Interesse sind, gewährt ihnen das bürgerlicher Recht eine institutionelle Anerkennung. Die homosexuellen Lebensgemeinschaften bedürfen hingegen keiner spezifischen Aufmerksamkeit [!] von Seiten der Rechtsordnung, da [!] sie nicht die genannte Aufgabe für das Gemeinwohl besitzen”. Homosexuelle Akte „verstoßen gegen das natürliche Gesetz, denn [sic!] die Weitergabe des Lebens bleibt beim Geschlechtsakt ausgeschlossen. Sie entspringen nicht einer wahren affektiven und geschlechtlichen Ergänzungsbedürftigkeit. Sie sind in keinem Fall zu billigen” (ebd. Nr. 2357). Die Rechte der Homosexuellen sind also primär deshalb zu vernachlässigen, weil sie dem Zweck der Fortpflanzung nicht entsprechen – ihre zu wahrende „Würde“ verdient demnach also keine besondere „Aufmerksamkeit“… Ebenso ist natürlich zu fragen, ob die Aufforderung, Homosexuellen „mit Achtung, Mitleid [!] und Takt zu begegnen. Man hüte sich, sie in irgend einer Weise ungerecht [!] zurückzusetzen“ (ebd. Nr 2358) nicht geradewegs auf eine Diskriminierung der besonderen Art hinausläuft?
Kant, Autonomie und traditionelle Ansichten zur Würde des Menschen
Magnus Striet ist also auch in diesen besonderen Hinsichten mit seiner Auffassung im Recht: „Kants Denkweise hat ein enormes Konfliktpotenzial bezogen auf das römische Lehramt“ – auch in Fragen des Verhältnisses von „Theonomie versus Autonomie“ und der Begründung der „Würde des Menschen“. Dies zeigt sich übrigens auch in der jüngsten Vatikan-„Erklärung“ „dignitas humani“, auf die sich erstaunlicherweise auch unser Tagespost-Redakteur bezieht (ob darin gegenüber dem „Weltkatechismus“ eine geänderte Haltung zum Thema „Homosexualität“ zutage tritt, ist hier nicht zu verfolgen).
In der Tat ist in dieser Vatikan-Erklärung „von einer Autonomie-Würde im neuzeitlichen Sinne“ nirgendwo die Rede, wie auch der Mainzer Moraltheologe Goertz anmerkt. So auch Striet: „Denn bis heute heißt der Zankapfel Autonomie“. Ihm zufolge ist es offensichtlich so, „dass das Lehramt bis heute unter Autonomie Willkür versteht.“ Natürlich hat die von Striet in Berufung auf Kant geltend gemachte Autonomie-Konzeption nichts mit der unsinnigen Unterstellung der „Tagespost“ zu tun: „Zugespitzt reformuliert: Wo alle zustimmen, kann nichts moralisch Unrechtes geschehen“ – zumal solche „Zuspitzung“ offenkundig auch jeder geforderten Notwendigkeit entbehrt und wohl eher auf „kollektive Präferenzen“.hinausläuft.
Zu der von der Tagespost-Redaktion offenbar gutgeheißenen Vatikan-Erklärung sei mit Blick auf die von Striet geltend gemachte „Autonomie“-Konzeption lediglich noch dies angemerkt. Kants zentrales Argument lautet: „Die Gesetzgebung selbst aber, die allen Wert bestimmt, muss eben darum eine Würde, d.i. unbedingten, unvergleichbaren Wert haben, für welchen das Wort Achtung allein den geziemenden Ausdruck der Schätzung abgibt, die ein vernünftiges Wesen über sie anzustellen hat. Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur.“ Dieser Anspruch Kants wird in „dignitas humani“ offenbar völlig ignoriert bzw. verkannt und dementsprechend unterboten. Dies verrät besonders deutlich die theologisch-christologische Vereinnahmung der menschlichen Würde, die offensichtlich auf einen „theokratischen Kurzschluss“ hinausläuft:
Dass „die Quelle [!] der Menschenwürde und Geschwisterlichkeit im Evangelium Jesu Christi“ liegen soll (Pkt. 6 der Vatikan-„Erklärung“), „Christus die Würde des Menschen hebt“ (Pkt. 19) und der „auferstandene Christus“ zuletzt „die ganzheitliche Würde eines jeden Menschen in ihrer ganzen Fülle offenbart hat“ (Pkt. 64), ist jedenfalls für „säkulare Bürger“ ebenso wenig nachvollziehbar wie die These: „In Wirklichkeit (!) erhält jeder Mensch, unabhängig von seiner Verletzlichkeit, seine Würde gerade dadurch, dass er von Gott gewollt und geliebt ist.“ (Pkt. 53). „In Wirklichkeit“ ist dieser apodiktisch vorgetragene Anspruch begründungstheoretisch völlig irrelevant und nichtssagend. Die Begründung der „ontologischen Würde der Person“ durch die „Tatsache“, „dass sie existiert und von Gott gewollt, geschaffen und geliebt ist“, durch den „Wert seines Seins“ (Pkt. 33), ist mit Kants „autonomer“ Begründung der menschlichen Würde wohl unvereinbar und läuft offenbar in der Tat auf einen „theologischen Kurzschluss“ hinaus.
Es ist unschwer zu erkennen: Der vom Tagespost-Redakteur gegen Striet gerichtete polemische Vorwurf eines „Schmalspur-Kant“ fällt auf den Tagespost“-Philosophen Ostritsch selbst zurück. Seine vornehmlich gegen Magnus Striet erhobene Polemik vergegenwärtigt auf beunruhigende Weise die Aktualität der kantischen Antwort auf seine Frage: „Leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter? Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung“…