Die Kolumnenreihe mit Jörg Phil Friedrich
Philosophischer Abreißkalender
Vor ein paar Tagen sah ich bei Instagram ein Bild von einem „philosophischen Abreißkalender“. Die Person, die es postete, fand es bemerkenswert, dass der Satz, den sie an jenem Tag auf dem Kalenderblatt vorgefunden hatte, so wunderbar mit einem Gedanken zusammenpasste, den sie selbst gerade gehabt hatte.
Es handelte sich um den Satz Das reine Sein und das reine Nichts ist also dasselbe. Von Hegel. Er steht bekanntlich in seiner Wissenschaft der Logik, im Ersten Teil, im Ersten Buch, im Ersten Abschnitt, im Ersten Kapitel, dort aber am Anfang der Sektion C, in der es um das Werden geht. Er ist die Zusammenfassung, wie das Wort also schon verrät, die Quintessenz aus dem Sektionen A und B. Auf den Satz folgen vier lange Anmerkungen, die den Gedanken erläutern, in die Philosophiegeschichte einordnen und seine Konsequenzen diskutieren.
Wie kann man auf die Idee kommen, einen solchen Satz in einen Abreißkalender zu drucken? Vielleicht kennt die Person, die für jeden Tag einen mehr oder weniger klug und gewichtig klingenden Spruch zu finden hatte, die genaue Herkunft gar nicht. Sie hat ihn irgendwo aufgeschnappt und als mysteriöse Weisheit womöglich im Internet überprüft, bevor sie den Satz einem Tag im Kalender zugewiesen hat.
Was Hegel mit diesem Satz sagen wollte, bleibt natürlich im Dunkeln. Er ist, so herausgerissen, genau genommen gar nicht Hegels Satz, denn das würde voraussetzen, dass die Bedeutungen der Wörter Sein und Nichts, wie der Philosoph sie genutzt hat, mit dem übereinstimmen würden, was sich eine beliebige Abreißkalender-Benutzerin beim Lesen des Satzes spontan denkt – und das ist sehr unwahrscheinlich.
Man könnte allerdings einwenden, dass der Satz doch auch ganz ohne Kontext zum Nach- und Weiterdenken anregen könnte. Dass Sein und Nichts zunächst einmal krasse Gegensätze bezeichnen, liegt auf der Hand. Dass solche extremen Gegensätze, wenn man sie „rein“ auffasst, dann doch wieder dasselbe sind, ist einen Gedanken wert. Wie wäre es mit „Die reine Liebe und der reine Hass sind dasselbe“? Was hieße hier „rein“? Da der Gedankengang ohnehin nicht bei Hegel ansetzt, nützt es nichts, nun bei ihm nachzuschlagen. Man könnte „rein“ als „abstrakt“ oder „unkonkret“, als etwas, das sich an nichts reibt, das keine Schattierung, keine Farbe hat, auffassen.