Reflexe #6

25.07.2024

Reflexe #6

Philosophischer Abreißkalender

Die Kolumnenreihe mit Jörg Phil Friedrich

Philosophischer Abreißkalender

Vor ein paar Tagen sah ich bei Instagram ein Bild von einem „philosophischen Abreißkalender“. Die Person, die es postete, fand es bemerkenswert, dass der Satz, den sie an jenem Tag auf dem Kalenderblatt vorgefunden hatte, so wunderbar mit einem Gedanken zusammenpasste, den sie selbst gerade gehabt hatte.

Es handelte sich um den Satz Das reine Sein und das reine Nichts ist also dasselbe. Von Hegel. Er steht bekanntlich in seiner Wissenschaft der Logik, im Ersten Teil, im Ersten Buch, im Ersten Abschnitt, im Ersten Kapitel, dort aber am Anfang der Sektion C, in der es um das Werden geht. Er ist die Zusammenfassung, wie das Wort also schon verrät, die Quintessenz aus dem Sektionen A und B. Auf den Satz folgen vier lange Anmerkungen, die den Gedanken erläutern, in die Philosophiegeschichte einordnen und seine Konsequenzen diskutieren.

Wie kann man auf die Idee kommen, einen solchen Satz in einen Abreißkalender zu drucken? Vielleicht kennt die Person, die für jeden Tag einen mehr oder weniger klug und gewichtig klingenden Spruch zu finden hatte, die genaue Herkunft gar nicht. Sie hat ihn irgendwo aufgeschnappt und als mysteriöse Weisheit womöglich im Internet überprüft, bevor sie den Satz einem Tag im Kalender zugewiesen hat.

Was Hegel mit diesem Satz sagen wollte, bleibt natürlich im Dunkeln. Er ist, so herausgerissen, genau genommen gar nicht Hegels Satz, denn das würde voraussetzen, dass die Bedeutungen der Wörter Sein und Nichts, wie der Philosoph sie genutzt hat, mit dem übereinstimmen würden, was sich eine beliebige Abreißkalender-Benutzerin beim Lesen des Satzes spontan denkt – und das ist sehr unwahrscheinlich.

Man könnte allerdings einwenden, dass der Satz doch auch ganz ohne Kontext zum Nach- und Weiterdenken anregen könnte. Dass Sein und Nichts zunächst einmal krasse Gegensätze bezeichnen, liegt auf der Hand. Dass solche extremen Gegensätze, wenn man sie „rein“ auffasst, dann doch wieder dasselbe sind, ist einen Gedanken wert. Wie wäre es mit „Die reine Liebe und der reine Hass sind dasselbe“? Was hieße hier „rein“? Da der Gedankengang ohnehin nicht bei Hegel ansetzt, nützt es nichts, nun bei ihm nachzuschlagen. Man könnte „rein“ als „abstrakt“ oder „unkonkret“, als etwas, das sich an nichts reibt, das keine Schattierung, keine Farbe hat, auffassen.

Ist eine reine Liebe, die durch nichts herausgefordert wird, dasselbe wie ein Hass, der auf nichts trifft und durch nichts gestört wird? Es bleibt kompliziert, aber bedenkenswert.

Jörg Phil Friedrich

Ein anderes Beispiel: „Das reine Leben und der reine Tod sind dasselbe“. Mit diesem Satz könnte man womöglich recht schnell etwas anfangen, und vielleicht käme man damit tatsächlich auch in die Nähe dessen, was Hegel beschäftigt hat, als er aus dem Zusammenfallen von reinem Sein und reinem Nichts schließlich das Werden bestimmt hat.

Es tut dem Verlag, der diese Abreißkalender produziert, wahrscheinlich zu viel Ehre, wenn man vermutet, dass das Ziel dieses Produktes sei, die Menschen zum Nachdenken darüber zu bewegen, welchen Sinn der kluge Spruch für sie haben könnte. Dennoch ist es nicht zu beklagen, wenn jemand sich einfach irgendeinen Satz aus einem Werk herausnimmt und ihn zum Ausgangspunkt eigenen Nachdenkens macht, ohne sich um den Kontext, aus dem das Fragment stammt, Gedanken zu machen. Letztlich machen wir auch nichts völlig anderes, wenn wir lange über ein Fragment eines Vorsokratikers nachsinnen.

Allerdings verfehlt ein solcher Umgang mit philosophischen Texten das Verständnis von Philosophie, das sich spätestens seit Platon und Aristoteles im Abendland entwickelt hat. Hier ist Philosophie nicht ein weiser Satz, ein Orakel-Spruch, den man sich ausdeuten kann, wie man mag, sondern spekulative oder analytische Argumentation, Formulierung eines rationalen Gedanken-Ganges, diszipliniertes, plausibles und nachvollziehbares Schlussfolgern, auch wenn die Regeln dieser Rationalität, dieses Schlussfolgerns sehr unterschiedlich sein können.

Es kann aber sein, dass die Existenz des „philosophischen Abreißkalenders“ ein Hinweis darauf ist, dass Philosophie in der Gesellschaft, im Alltag, eben über die Jahrtausende gerade das geblieben ist: Verkündung von bedeutungsschweren, mal unverständlichen, mal weit ausdeutbaren Weisheiten durch Leute, die als weise gelten und von denen man meint, dass sie durch tiefes Nachdenken zu ihren Einsichten gekommen sind, die man sich dann nehmen und im schlechtesten Fall als Waffe im Meinungsstreit, im ironischen Fall als unterhaltsames Rätsel und im besten Fall eben als Ausgangspunkt zum eigenen philosophischen Grübeln nehmen kann. Vielleicht erwartet auch die moderne Welt nichts anderes vom Philosophen als unsere Urahnen von ihren Schamanen gewollt haben: Weisheiten, die man nicht versteht, die aber beeindruckend klingen und auf etwas außerhalb des alltäglichen Tuns verweisen, das in diesen Sätzen anwest.

Jörg Phil Friedrich

Von Jörg Phil Friedrich erschien bei Alber Der plausible Gott und Ist Wissenschaft, was Wissen schafft?. Er schreibt regelmäßig philosophische Kurzessays und Rezensionen, u.a. in der Wochenzeitung Der Freitag und in der Tageszeitung WELT sowie in human, dem neuen Magazin für Intelligenz und Zukunft.

Die Kolumne

In seiner Kolumne Reflexe gibt er hier monatlich Anregungen zur philosophischen Reflexion geben, die auf alltäglichen, politischen oder gesellschaftlichen Erfahrungen beruhen.