Selektive Kantwahrnehmung

01.07.2024

Selektive Kantwahrnehmung

Selektive Kantwahrnehmung

Eine Replik auf Langthalers Striet-Verteidigung von Sebastian Ostritsch

Rudolf Langthaler hat in einem Text, der auf der Webseite des Verlages Karl Alber erschienen ist, kritisch auf zwei meiner in der „Tagespost“ veröffentlichten Artikel reagiert, die sich mit der affirmativen Kant-Rezeption innerhalb bestimmter Strömungen der deutschen Theologie beschäftigen. Langthaler lässt seine Leser allerdings im Unklaren darüber, dass es sich um zwei verschiedene Texte aus meiner Feder handelt, die er aber ohne Unterscheidung wie einen zitiert. Die beiden Artikel, mit jeweils unterschiedlichem Schwerpunkt und Anliegen, sind hier und hier nachzulesen.

In der Hauptsache aber wendet sich Langthaler gegen meinen als Online-Kommentar erschienenen Artikel „Kant als Dogma“. Darin habe ich mich kritisch mit einem Interview auseinandergesetzt, das der Freiburger Theologe Magnus Striet dem Online-Portal katholisch.de anlässlich Immanuel Kants 300. Geburtstag gegeben hat.

Langthaler hält meinen Text für eine „Polemik“, die „weithin völlig haltlos“ sei. Da „weithin“ nicht „gänzlich“ bedeutet, nehme ich an, dass Langthaler mir zumindest in gewisser Hinsicht Recht gibt. Und in der Tat beginnt er seine Ausführungen mit der Zustimmung zu meiner These, dass es in Sachen „Gottesbeweise eine klare Unvereinbarkeit zwischen Kants Position und dem katholischen Lehramt“ gibt.

Da die Treue zum katholischen Lehramt für jeden Katholiken verpflichtend ist, folgt aus der zumindest partiellen Unvereinbarkeit von Kant und Lehramt, dass man nicht vollumfänglich der kantischen Philosophie anhängen und gleichzeitig katholischer Theologe sein kann. Konkret auf die Frage der Gottesbeweise bezogen: Wer in Gefolgschaft Kants oder eines anderen Philosophen bestreitet, dass die Existenz (nicht das Wesen!) Gottes mit den Mitteln der natürlichen Vernunft erkennbar ist, stellt sich gegen das Lehramt der Kirche, insbesondere das Erste Vatikanum. Denn im Konzilsdokument „Dei Filius“ wird die Erkennbarkeit des Existenz Gottes mit den Mitteln der natürlichen Vernunft dogmatisch definiert. Wer Gegenteiliges behauptet, wird vom Dokument unmissverständlich mit den Bannworten „anathema sit“ belegt.[1]

Dem Philosophen steht es bekanntlich frei, Positionen zu vertreten, die dem Lehramt widersprechen. Für Katholiken – insbesondere solche, die sich beruflich der sacra doctrina verschrieben haben – gibt es diese Freiheit jedoch nicht. In diesem Sinne ist auch meine Kritik an Striet zu verstehen, wenn er Zustimmung für Kants Ablehnung der These vom Sühnetod Christi äußert. Langthaler bestreitet auch gar nicht, dass Striet in diesem Punkt mit Kant übereinstimmt, unterstellt mir aber „Autoritätsglauben“, gegen den sich Kants „aufgeklärte Denkungsart“ richte. Was Langthaler nicht zu verstehen scheint, ist, dass ich hier als Katholik zu einem anderen Katholiken, und zwar einem Professor für katholische Theologie, gesprochen habe. Natürlich kann Striet, als Philosoph oder Kantianer, den Sühnetod Christi leugnen. Aus katholischer Sicht ist dies aber schlicht eine Häresie, die offenkundig der Heiligen Schrift widerspricht (ich habe in meinem Artikel auf 1 Kor 15,3 verwiesen). In seiner Eigenschaft als katholischer Theologe ist Striet daher aufgerufen, zu erklären, wie er die katholische Lehre mit seinen philosophischen Positionen in Einklang zu bringen gedenkt.

Was Langthaler also verkennt, ist, dass ich eine doppelte Kritik an Striet artikuliert habe, nämlich einmal aus katholischer und einmal aus philosophischer Perspektive. Da Langthaler allein darum bemüht ist, Striet als Kantianer zu verteidigen, missversteht er alle anders gelagerten Einwände meinerseits.

Doch auch auf philosophischer Ebene trifft seine Reaktion nicht den Kern meiner Argumente. In meinem Text „Kant als Dogma“ habe ich darauf hingewiesen, dass sich Kants Kritik der Gottesbeweise vor allem um den ontologischen Gottesbeweis dreht, den auch Thomas von Aquin – lange vor Kant, aber mit ähnlichen Argumenten – abgelehnt hat. Langthaler wendet nun ein, dass Kant „bekanntlich eben nicht nur den ‚ontologischen Gottesbeweis‘, sondern gleichermaßen den ‚kosmologischen‘ und den ‚physikotheologischen Gottesbeweis‘ verworfen habe“. Das ist zwar völlig korrekt, ändert aber nichts an meinem eigentlichen Punkt. Denn wie jedem Kant-Forscher bekannt sein dürfte, besteht das Hauptargument, das Kant gegen den kosmologischen und den physikotheologischen Gottesbeweis ins Feld führt, gerade darin, dass diese die Gültigkeit des ontologischen Beweises voraussetzen: „So liegt demnach dem physikotheologischen Beweise der kosmologische, diesem aber der ontologische Beweis […] zum Grunde“ (KrV, B 568). Zumindest für Thomas, mit dessen Gottesbeweisen sich Kant mangels Kenntnis gar nicht auseinandergesetzt hat, gilt dies aber offensichtlich nicht. Thomas lehnt den ontologischen Beweis ausdrücklich ab und verwendet ihn auch nicht implizit in einem seiner Fünf Wege. Wer anderes behauptet, trägt die Beweislast.

Nun hat Kant auch ein Argument gegen den kosmologischen Beweis formuliert, das ohne Bezug auf den ontologischen Beweis auskommt. Im Antinomien-Kapitel der Kritik der reinen Vernunft behauptet Kant, dass das Argumentationsmuster, das unter anderem dem kosmologischen Beweis zugrunde liegt und das von der Existenz eines Bedingten auf etwas Unbedingtes als dessen erste Ursache zu schließen versucht, ein Trugschluss sei (genauer: ein „Sophisma figurae dictionis“, KrV, B 528). Dieser Vorwurf beruht aber auf den Voraussetzungen von Kants transzendentalem Idealismus, vor allem der Unterscheidung zwischen Erscheinungen und Noumena (also „Gedankendingen“). Der kantischen Erkenntnistheorie zufolge sind nur Erstere, nicht aber Letztere Gegenstände möglicher Erkenntnis. Für das in Rede stehende kantische Argument gegen den kosmologischen Beweis bedeutet dies: Es steht und fällt damit, ob es überzeugende Gründe gibt, transzendentaler Idealist im Sinne Kants zu sein. All das unterstreicht meinen ursprünglichen Punkt: „Die Argumente der vorkantischen Philosophie lassen sich nicht mit einer bloßen Beschwörung des Namens ‚Kant‘ widerlegen.“

Neben der von Striet nicht hinreichend berücksichtigten Begründungsbedürftigkeit auch der kantischen Position habe ich darauf hingewiesen, dass Striets Bezugnahme auf Kant zudem höchst selektiv ist. Wenn Striet „Gott“ als ein bloßes Sehnsuchtswort bezeichnet, dann ist er damit nicht in Übereinstimmung mit Kants Postulatenlehre, die es für eine unumgängliche – wenn auch nicht beweis- oder erkennbare – Denknotwendigkeit hält, die Existenz Gottes anzunehmen. Langthaler bestreitet dies in der Sache nicht. Allerdings möchte er, im Sinne einer wohlwollenden Interpretation, Striets Rede von einem „Sehnsuchtswort“ genau in diesem kantischen Sinne verstanden wissen und spricht daher von einem „leicht auszuräumenden Missverständnis“. Blickt man allerdings auf das Interview Striets mit dem Deutschlandfunk, in dem von dem „Sehnsuchtswort Gott“ die Rede ist, fällt auf, dass Striet nicht die kantische Position vertritt. Dort heißt es, „der Name Gottes“ sei „ein Sehnsuchtswort, an dem sich Menschen orientieren können, aber auch nicht mehr“. Wer im geistigen Gefolge Kants stehen möchte, der müsste dagegen etwa formulieren: „Der Name Gottes ist ein Sehnsuchtswort, an dem sich Menschen als Vernunftwesen orientieren müssen.“

Bleibt noch der Fall der Sexualmoral. In diesem Punkt habe ich insbesondere die folgende Aussage Striets kritisiert: „Und wenn man sich auf Kants Autonomiemoral einlässt, so gerät man in einen schweren Konflikt mit dem, was sich bis heute in Fragen der Sexualmoral im Weltkatechismus findet.“ Langthaler zufolge bezieht sich Striet dabei vor allem auf „Empfängnisverhütung, aber auch auf das Thema ‚Homosexualität‘“.

Ich selbst hatte allerdings das Beispiel „Selbstbefriedigung“ gewählt, weil die Sachlage hier besonders einfach nachzuzeichnen ist: Kant sieht in der Selbstbefriedigung einen Selbstmissbrauch, der der Würde des Menschen widerspricht und daher moralisch nicht erlaubt ist. Erneut pflichtet Langthaler mir bei, dass dies Kants Position ist. Seine Bemerkung, Kant rekurriere hier aber „ausschließlich auf (‚würde-bezogene‘) Gründe der ‚reinen praktischen Vernunft‘, d.i. auf die Vernunftgesetzgebung‘“, und sein Hinweis, dass bei Kant daher „nirgendwo […] die Berufung auf göttliche Gebote strapaziert“ werde, sind vollkommen richtig. Nur kämpft Langthaler hier erneut gegen Gespenster. Ich zumindest habe nie behauptet, was er hier angreift. Gerade vor dem Hintergrund, dass Langthaler und ich uns bezüglich Kants Position in diesem Punkt einig sind, drängt sich folgende Frage an Magnus Striet auf: Ist er als Kantianer mit Kant der Ansicht, dass Selbstbefriedigung aus würdebezogenen Gründen sittlich nicht gestattet ist?

Im Folgenden bemüht sich Langthaler nachzuweisen, dass Kants Eheverständnis nicht mit der katholischen Auffassung der Ehe identisch ist. Da ich Gegenteiliges nicht einmal im Ansatz behauptet habe, ist dieser Punkt ebenso unstrittig wie irrelevant. Ebenso wenig habe ich je in Frage gestellt, dass Kants Würdebegriff von dem des katholischen Lehramts verschieden ist. Auch in dieser Hinsicht bleibt es rätselhaft, gegen wen Langthaler eigentlich argumentieren möchte.

Über eine Replik auf meinen Text geht Langthaler auch dort hinaus, wo er den Katechismus der Katholischen Kirche mit seiner Aufforderung, Homosexuellen „mit Achtung, Mitleid und Takt zu begegnen“ und dem Verbot, „sie in irgend einer Weise ungerecht zurückzusetzen“ (Nr. 2358), eine „Diskriminierung der besonderen Art“ unterstellt. Dazu nur so viel: Auch bei der Frage der Sittlichkeit homosexueller Akte zeigt Langthaler dieselbe selektive Kantwahrnehmung, wie sie auch bei dem von ihm protegierten Striet zu sehen ist. Langthaler erwähnt nämlich mit keinem Wort, dass Kant homosexuellen Geschlechtsverkehr unter die „crimina carnis contra naturam“ einordnet und diese im Rahmen seiner Würde- und Autonomiemoral (!) als „Läsion der Menschheit in unserer eigenen Person, [die] durch gar keine Einschränkungen und Ausnahmen wider die gänzliche Verwerfung gerettet werden können“ deutet (Metaphysik der Sitten, § 24). Auch in dieser Sache zeigt sich also dasselbe Muster: Wo Kant als Koryphäe aufgeklärten Denkens (vermeintlich oder wirklich) gegen die Lehre der katholischen Kirche angeführt werden kann, ist er höchst willkommen. Wo aber seine Positionen weltanschaulich stören, werden sie geflissentlich ignoriert.

[1] „Si quis dixerit, Deum unum et verum, Creatorem et Dominum nostrum, per ea, quae facta sunt, naturali rationis humanae lumine certo cognosci non posse; anathema sit.“

Der Autor

Sebastian Ostritsch ist promovierter und habilitierter Philosoph. Er lehrt als Privatdozent an der Universität Heidelberg. Ostritsch ist Autor mehrerer philosophischer Fach- und Sachbücher. Im Jahr 2017 hat er gemeinsam mit Markus Gabriel und Csaba Olay das Werk „Welt und Unendlichkeit – ein deutsch-ungarischer Dialog in memoriam László Tengelyi“ im Verlag Karl Alber herausgegeben. Der Band versammelt insgesamt elf im Andenken an László Tengelyi und in Anlehnung an sein letztes Buch „Welt und Unendlichkeit“ zum Problem phänomenologischer Metaphysik (2014, 32015) verfasste Beiträge deutscher und ungarischer Philosophinnen und Philosophen. Mit Beiträgen von Bianka Boros, Gábor Boros, Michael N. Forster, Markus Gabriel, Anton Friedrich Koch, Csaba Olay, Sebastian Ostritsch, Inga Römer, Sándor Sajó, András Schuller und Tamás Ullmann.