Interview Friedenstheorien

07.12.2022

Interview Friedenstheorien

Interview mit Frau Prof.in Christina Schües (Mitherausgeberin der Reihe „Friedenstheorien“) und Frau Dr. Stefanie Thiele (Preisträgerin 2021 des Preises „Friedenstheorien“) im Rahmen der Preisverleihung am 1. Dezember 2022

Liebe Frau Schües, darf ich Sie bitten, die Reihe „Friedenstheorien“ ganz kurz vorzustellen?

Die Reihe „Friedenstheorien“ möchte besonders Gespräche und Debatten über Friedenskonzeptionen und -philosophien unterstützen und zusammenbringen. Die Reihe macht Monographien, Aufsatzsammlungen, auch Übersetzungen oder neue Editionen der Öffentlichkeit zugänglich. Sie steht für die Bemühung, eine Welt mitzugestalten, in der Krieg, Gewalt und Ungerechtigkeit weniger wahrscheinlich werden.

Liebe Frau Thiele, Ihr Band hat den Preis der Reihe gewonnen. Können Sie die Hauptthese Ihres Buches in wenigen Sätzen zusammenfassen?

Wenn wir uns fragen, wann und wie im Ausnahmefall Krieg geführt werden darf, greifen Deontolog*innen häufig auf die sogenannte Theorie des gerechten Krieges und damit auf Überlegungen zurück, die zunächst unabhängig davon relevant sind, wie viele Menschen im Zuge eines Krieges getötet oder mithilfe eines Krieges vor ansonsten sehr sicherem Leid bewahrt werden können. So fokussiert die Theorie des gerechten Krieges etwa rechtfertigende Kriegsanlässe oder die Absichten, mit denen Kriege geführt werden. Sie formuliert dabei auch die Forderung nach Proportionalität und verlangt damit, dass ein Krieg keine gewichtigeren Leiden verursachen als verhindern dürfe. Ich gehe in meinem Buch von der Beobachtung aus, dass Deontolog*innen häufig die Überlegung, der Wert von Menschenleben ließe sich gegeneinander aufrechnen, aus guten Gründen ablehnen, und argumentiere für die These, dass die Forderung nach Proportionalität ohne eine solche Überlegung praktisch nicht erfüllt werden kann. Deontolog*innen, die die Theorie des gerechten Krieges vertreten, müssen sich daher nach meiner Ansicht stets gegen das Führen von Kriegen aussprechen. Für sie stellt sich dann zukünftig umso dringender die Frage, welche alternativen Mittel im Konfliktfall zur Verfügung stehen.

Seit einiger Zeit herrscht wieder Krieg in Europa – trotz aller Bemühungen in der Friedensforschung. Kann die Wissenschaft (überhaupt) Einfluss auf politische oder gesellschaftliche Entwicklungen nehmen?

CS: Historisch standen die Wissenschaften, die Öffentlichkeit und die Politik in einem spannungsreichen, sich gegenseitig beeinflussenden Verhältnis. Die Politik ist gut beraten, wenn sie die Friedens- und Konfliktforschung in ihre Überlegungen, Reaktionen und Strategien einbezieht. Wenn diese erst im Falle des Krieges zu Rate gezogen wird, dann erscheint das sehr spät, wenngleich nicht notwendig zu spät. Die Förderung von Friedensursachenforschungen sowie das Nachdenken über mögliche Friedenskonzeptionen sollten in die politische Deliberation und Entscheidungsfindung eingebunden werden. Nur so kann die friedliche, konstruktive und lebendige Zusammenarbeit verschiedener Gruppen, Ländern oder Kulturen unterstützt werden.

Im Zuge des Ukrainekrieges ist viel vom „Recht auf Selbstverteidigung“ und der „Pflicht zur Unterstützung des angegriffenen Landes“ die Rede. Wie ist dies aus pazifistischer Perspektive einzuordnen?

CS: Nach Friedensphilosophie wird oft angesichts eines Krieges gefragt, aber sie sollte stets auch in Zeiten des Nicht-Krieges, gar in Friedenszeiten als aktuelle, dringliche und notwendige Aufgabe gesehen werden. Im Falle eines Krieges sollte es friedenstheoretisch nicht darum gehen, Menschen, die gewalttätig angegriffen werden, einzureden, dass sie sich auf keinen Fall wehren dürften. Die Frage nach militärischer Unterstützung für ein Land, das angegriffen wurde, stellt sich aus militärischer, aber auch zivilrechtlicher und friedenstheoretischer Perspektive. Einer friedenstheoretischen Perspektive, die sich abhebt von einer rein pazifistischen, geht es vordringlich darum, aus einem reaktiven und rein von Furcht geleiteten Muster der Kriegslogik auszusteigen. Sie sucht stets nach alternativen Mitteln der Unterstützung und sie stellt die langfristige Frage, was nach einem Ende der militärischen Interventionen passieren könnte und wie dann eine mitmenschliche Gesellschaft und ein Zusammenleben in Frieden gestaltet werden kann.

ST: Ein gewalttätiger Angriff wie der auf die Ukraine verletzt ein grundlegendes moralisches Recht von Menschen, nämlich das Recht, selbst über das eigene Leben und dessen Gestaltung bestimmen zu dürfen. Es ist an den akut Betroffenen, kurzfristig zu entscheiden, ob sie mit einer Verteidigung auf diese Rechtverletzung reagieren wollen. Wenn sie nicht in der Lage sind, sich selbst zu verteidigen, haben andere die moralische Pflicht, ihnen zu helfen. In welcher Form diese Hilfe geleistet werden darf oder muss, ist damit zunächst noch offen. Grundsätzlich gilt es, Mittel zur Unterstützung zu wählen, die den Menschen einerseits effektiv helfen, zu überleben oder weitere Angriffe abzuwehren. Andererseits ist es wichtig, eine Ausweitung des Konflikts zu vermeiden, um nicht weitere, bisher noch nicht betroffene Menschen darin zu gefährden, selbstbestimmt zu leben. Dabei sollte das Potential gewaltfreier Mittel, einerseits Eskalationen zu verhindern, andererseits langfristig einen Weg zu einem guten Miteinander nach einem Krieg zu eröffnen, ausgeschöpft werden.

Frau Schües, in der Reihe sind zwei starke Bände zur „Ethik im Drohnenzeitalter“ erschienen. Die Erforschung welcher weiteren Themen halten Sie für aktuell und drängend?

Die beiden Bände zur Ethik im Drohnenzeitalter von Gertrud Brücher geben einen sehr breiten Einblick in das digitale Zeitalter, die Verflechtung zwischen Mensch und Technik und die aus diesen Verhältnissen neu erwachsenen Schwierigkeiten, die einzelnen Menschen als souveräne Entscheidungsträger zu verstehen. In diesem groß angelegten Kontext fragt Brücher auch nach der Schwierigkeit, etwa Cyberangriffe oder ferngesteuerte Drohnen zu verantworten. Im Kontext von Daten, Datafizierung, Information, Codes usw. wird die Friedensphilosophie sich weiterhin der Verflechtung von Informationstechnologie, datengestützten Assistenzsystemen und politischen Entscheidungen annehmen müssen. Doch nicht nur dieser Bereich, auch Fragen zur conditio mundana – wie die Welt und ihre mitmenschlichen Beziehungen und Verhältnisse gestalten werden können –gehören zur Friedensforschung. Hierbei möchte ich an Begriffe wie Vertrauen, Gerechtigkeit oder auch Verletzlichkeit erinnern.

Ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch!

Die Fragen stellte Maria Saam, Lektorin Verlag Karl Alber.