Diskursverantwortung in Krisen- und Kriegszeiten

22.03.2023

Diskursverantwortung in Krisen- und Kriegszeiten

Prof. em. Dr. Dietrich Böhler

Mit Dietrich Böhler im Gespräch

Angesichts des russischen Angriffskrieges in Europa wurden zur anberaumten Konferenz des Hans Jonas-Zentrums im Sommer 2022 über Zukunftsverantwortung und Diskursethik – die zum Thema aktueller Streitfragen wie Ethik und Digitalisierung geplant war – ukrainische Kolleginnen und Kollegen als Hauptredner eingeladen und ein neuer Forschungsschwerpunkt hinzugefügt:

Was ist von Einzelnen in ihrer gesellschaftlich geteilten Verantwortung zu fordern, und was von Entscheidungsträgern, die durch Amt und Mandat weitergehende Verantwortung tragen?

Wir haben uns mit Prof. em. Dr. Dietrich Böhler unterhalten, der gemeinsam mit Bernadette Herrmann und Harald Asel bei uns das Buch „Diskursverantwortung in Krisen- und Kriegszeiten – Bad Kissinger Symposion des Hans Jonas-Zentrums“ herausgegeben hat:

Inwiefern hat der Ukraine-Krieg sowohl das Bad Kissinger Symposion des Hans Jonas-Zentrums im vergangenen Jahr als auch den Inhalt Ihres Buches beeinflusst?

„Es ist ein russischer Angriffs-, kein „Ukrainekrieg“. Dieser völkerrechtlich und politisch-ethisch falsche Ausdruck verführt zur falschen Gleichstellung der Kriegsbeteiligten, wie sie Prof. Matheis in Kap. 1.11 vornimmt. Völkerrechtlich ist der Angegriffene samt möglicher Bundesgenossen (wie NATO und Deutschland) zur Waffengewalt legitimiert, ethisch ist er dazu qua Schutz der eigenen Bevölkerung verpflichtet. Diese Problematik provozierte uns auf dem Kissinger Symposion zu kontroversen Diskussionen, die das Buch nicht allein wiedergibt und zur Kritik an dem 2022 nicht enden wollenden „Verscholzen“ des Bundeskanzlers weiterführt. Vielmehr wird das Problem authentisch in ukrainischen Beiträgen vertieft: von dem philosophischen Direktor der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine, Prof. Yermolenko, und der Psychologin Frau Dr. Lena Kornyeyeva. Das Nachwort pointiert das Problem mit der Analyse des Philosophen und Russlandkenners Vittorio Hösle.“

Eines von vier großen Kapiteln Ihres Werkes trägt den Titel ‚Diskurs trotz Krieg‘. Inwiefern oszilliert dieser zwischen Mit-Verantwortung und Pazifismus?

„„Diskurs trotz Krieg“: Die Idee des strikt argumentativen Diskurses besagt, daß alle, die sich informieren und denken können, mögliche Partner im Dialog der sinnvollen (also widerspruchsfreien) Argumente und daher mitverantwortlich sind sowohl für den Diskurs als auch für die Umsetzung seiner Ergebnisse in die Wirklichkeit – hier des Putinschen Angriffskrieges. Das aber heißt: Stärkung des ukrainischen Widerstands mit all der Waffengewalt, welche die Ukraine für Verhandlungen so ausrüstet, daß alle Ukrainer Sicherheit vor russifizierender Gewalt erhalten.

Pazifismus wird unverantwortlich, solange er sich nicht vom Diskursmoralprinzip bestimmen läßt, das auch fordern kann, sich die Hände mit Gewalthandeln zu beschmutzen, sofern ein Unrecht sich nicht anders verhindern läßt. Doch erlaubt es derlei nur insoweit, als die Handlungsweise den argumentativen Konsens aller möglichen Diskurspartner (unter Einschluß der Betroffenen) verdient. Das Diskursmoralprinzip besagt: Gültig und anzustreben ist, was sich mit dem argumentativen Konsens im Diskursuniversum vereinbaren lässt.“

Im Rahmen des Symposiums haben Sie in der Nachfolge Ihres Lehrers Hans Jonas über spannende Themen wie Digitalisierung sowie Theologie, Philosophie und Engagement diskutiert. An wen richten Sie sich mit diesem bunten und aktuellen Themenspektrum?

„Mein Lehrer war Karl-Otto Apel, Hans Jonas ein Vorbild und Freund. Das breite Themenspektrum des Buches, das der weithorizontige Hans Jonas heute sicher auch philosophisch durcharbeiten würde – Digitalisierung und soziale Medien (Kap. 2), Macht und Verantwortung im Blick auf jesuanische und prophetische Ethik sowie angesichts von Gottes Machtlosigkeit vor dem menschlich Bösen (Kap. 3), Spannungsverhältnis von philosophischer Reflexion und mancherlei Engagement (Kap. 4) –, möchte die offene Gesellschaft all derer ansprechen, die sinnvolle Argumente suchen und alle möglichen Diskurspartner (selbst „alte weiße Männer“ und natürlich die anwaltschaftlich zu vertretenden „Menschen mit Behinderungserfahrungen“) als gleichberechtigt achten, um immer erneut nach Wahrheit und Richtigkeit zu suchen. Insofern richtet sich das Buch an alle, die ihr praktisches Handeln, z.B. in der Pflege, moralisch reflektieren wollen, und an Fachphilosophen, die sich den Anfragen aus moralisch herausfordernden Praxisfeldern zu stellen haben.“