Forschungsverbote sind anti-nietzscheanisch

06.03.2024

Forschungsverbote sind anti-nietzscheanisch

Prof. Dr. Christian Niemeyer erläutert Nietzscheforscher Osman Choque-Aliaga sein Anliegen eines biographischen Zugangs zu Nietzsches Werk

Was ist das Ziel Ihres neuen Buches „Nietzsche, New School“?

(…) Karl Schlechta (1957) und Mazzino Montinari (1982) hatten es aus je ihren Gründen für opportun erklärt, „das eigentliche Werk mit ‚Menschliches, Allzumenschliches‘ beginnen zu lassen“ (Schlechta) bzw. den „‘echten‘, zu sich selbst […] zurückgekommenen Nietzsche“ (Montinari) ins Zentrum zu rücken. Eine faszinierende Idee, die eigentlich jeweils Schockwellen im Fach hätte auslösen müssen, zumindest seitens jener, die ihre Kompetenz im Bereich des nun als ‚uneigentlich‘ und ‚unecht‘ verworfenen Frühwerks erwiesen hatten oder zu erweisen gedachten. Grund genug für mich, das Problem selbst noch einmal streng zu markieren, also der Grundidee, eines Nietzsche ohne Frühwerk habhaft zu werden, deutlicher: eines Nietzsche ab 1878. Dies geschieht in dem neuen Buch, nach dem Sie fragen, unter dem Titel New School.

In diesem neuen Buch erwähnen Sie die Syphilis, und ich möchte Sie fragen, inwieweit dies eine philosophische Frage sein kann und wie sie sich auf Nietzsches Philosophie insgesamt auswirken würde.

Ich erlaube mir hier zunächst eine Rückfrage: Was meinen Sie mit der Vokabel „Nietzsches Philosophie“? Meine Ausgangsthese hierzu: Nietzsche, der studierte Altphilologe, war nun einmal, was die Philosophie angeht, am Ende keiner mehr und zu Beginn ein Autodidakt. Gewiss, im Hochgefühl, das dem Erscheinen seiner Aphorismensammlung ‚Menschliches, Allzumenschliches‘ beginnen (1878) folgte, hatte er noch, sich zugleich zu seiner neuen, der anti-metaphysischen Position bekennend, geschrieben:

[J]etzt wage ich es, der Weisheit selber nachzugehen und selber Philosoph zu s e i n; früher verehrte ich die Philosophen. Manches Schwärmerische und Beglückende schwand: aber viel Besseres habe ich eingetauscht. Mit der metaphysischen Verdrehung ging es mir zuletzt so, daß ich einen Druck um den Hals fühlte, als ob ich ersticken müsste. (5: 335)

Aber welcher Art war eigentlich diese neue Philosophie jenseits der ‚antimetaphysischen Verdrehung‘? War es überhaupt noch Philosophie? Besser vielleicht: Blieb es Philosophie? Denn man muss ja bedenken, welcher Pointe die anti-metaphysische, auf die Entfaltung moderner Einzelwissenschaften hinweisende Forschungsprogrammatik Nietzsches ab 1878 zutrieb – auf kritischen „Ägyptizismus“ nämlich, die in Nietzsches letztem, Anfang Januar 1889 erschienenen Werk Götzen-Dämmerung ihre Erläuterung erfährt durch den Satz: Alles, was Philosophen seit Jahrtausenden gehandhabt haben, waren Begriffs-Mumien. (VI: 74) Hierüber kann man als Philosoph oder auch nur als Gräzist, entsprechenden Humor vorausgesetzt, vielleicht noch lachen – nicht aber, so jedenfalls nicht der renommierte Nietzscheforscher Andreas Urs Sommer, über das zeitgleich entstandene Gesetz wider das Christenthum, in welchem Nietzsche den Philosophen als „Verbrecher der Verbrecher“ (VI: 254) geißelt, damit seinen „Austritt aus dem Kreis der Philosophen“ (Sommer 2017: 85) besiegelnd. Statt darüber zu klagen, wäre es an der Zeit, Nietzsches Kritik am sexualfeindlichen Christentum nachzugehen – und dabei wird es ohne Thematisierung der Syphilis, zur Not auch jener seines Vaters, nicht gehen. (…) Sicherlich ist mir die Kritik jener nicht unbekannt, die mir anlasten, ich verließe mit derlei Erörterungen den Resonanzraum philosophischen Denkens oder sei nur daran interessiert, für die dunklen Seiten in Nietzsches Werk Schuldige zu benennen, etwa seine Schwester oder Wagner oder eben die Syphilis. Weit wichtiger als derlei Geplänkel ist mir allerdings das Lob für mein 2020er Buch von Pia Daniela Volz (- Schmücker), der, weltweit anerkannt, zentralen Expertin für Nietzsches Krankheit. (…) Die New School der Nietzscheforschung will, streng orientiert an den wissenschafts- wie erkenntnistheoretischen Vorgaben Nietzsches, diesen Denker, den als Fachphilosophen zu beschreiben seine Schwierigkeiten hat und der ab 1878 sich wohl vor allem als Psychologe sah, wieder als Thema aller wissenschaftlich attraktiv machen ohne jegliche methodologische Beschränkung, mit einer Ausnahme: Das Verschweigen von Nietzsches Syphilis dort, wo das Gegenteil erforderlich gewesen wäre, wird die New School der Old School fortan als Kunstfehler ankreiden, darauf beharren, dass über Nietzsches euthanasienahes Denken im Spätwerk nur reden darf, wer über Nietzsches Syphilis und die düsteren Gedanken, die sie ihm eingab, reden will und kompetent reden kann.

Wie unterscheidet sich Ihr Werk von der Fülle der literarischen Produktion, die jedes Jahr über Nietzsche erscheint?

Durch den biographischen Zugang. (…) Nietzsche hat, in vager Ahnung, sich zum letzten Mal zu äußern, in Ecce homo (1888/9) alles unternommen, um sein Frühwerk dem späteren (ab Menschliches, Allzumenschliches; 1878) einzufügen. Er schreckte dabei nicht davor zurück, seinen eigenen, vielgestaltigen, teils sehr temperamentvollen Abschied von diesem Frühwerk und damit auch von Richard Wagner zu verleugnen. Die Old School der Nietzscheforschung, dominiert von Altphilologen sowie Antikenfreunden, hat über Jahrzehnte hinweg alles unternommen, die Zugehörigkeit dieser Werkphase zum späteren Nietzsche zu behaupten. Die New School sieht sich, abweichend davon, dazu verpflichtet, in Fragen wie diesen jenem Nietzsche wieder Gehör und Stimme zu geben, der über sein Frühwerk frei von Eigeninteressen, die in der Spätphase dominierten, zu urteilen vermochte, also etwa wie folgt: Es ist der Humor meiner Lage, daß ich v e r w e c h s e l t werde – mit dem ehemaligen Basler Professor Herrn Dr. Friedrich Nietzsche. Zum Teufel auch! Was geht mich dieser Herr an! (7: 30) Dieser Brief vom 26. März 1885 ist in der Nietzscheforschung so gut wie unbekannt, (…). Wer nicht um Nietzsches Syphilis und um die subjektiven Krankheitstheorien, die sie Nietzsche eingab, weiß und wissen will – etwa, weil der/die/das Widersprechende schließlich Philosoph sei und also angehalten, den Zutritt über die Hintertreppe zu verweigern –, wird an Nietzsche hoffnungslos scheitern, nichts von seiner großen Verzweiflung verstehen, die ihm euthanasienahe Gedanken eingab. (…)

So betrachtet erlaube ich mir als zusammenfassende Antwort auf Frage 3: Mein Buch Nietzsche, New School unterscheidet sich von anderen Produkten durch den Versuch, Nietzsche wieder als „Dynamit“, als anti-bürgerlichen und entschieden anti-christlichen Denker, auszuweisen, unter Absehung von Bagatellisierungen. Nietzsche, so heißt es hierzu in Kap. 14 meines hier in Rede stehenden Buches, war alles andere als ein friedlicher Gefolgsmann von Martha Nussbaums Projekt „guten Lebens“; was er nach seiner Abwendung von Wagner als immer wieder neu aufgeladene Idee vortrug, war ein ‚buntes‘ Zeitalter, „das viele Experimente des Lebens machen soll“ (KSA 11: 48), denn, so seine wohl wichtigste Idee: „[I]ch nahm euch Alles, den Gott, die Pflicht, – nun müßt ihr die größte Probe einer edlen Art geben.“ (XI: 88)

Der Text ist ein Auszug aus einem Interview im Januar 2024 mit Nietzscheforscher Osman Choque-Aliaga, z. Zt. Universität Freiburg/Br., für die Zeitschrift Revista Yachay, Vol. Núm. 79 (2024), die an der Universidad Católica Boliviana erscheint.