Reflexe #1

12.02.2024

Reflexe #1

Die Kolumnenreihe mit Jörg Phil Friedrich

Wann wird philosophiert?

Ob Menschen an Orten und zu Zeiten philosophiert haben, aus denen wir keine schriftlichen Zeugnisse haben, kann man kaum beurteilen. Auch wenn das Philosophieren vor allem in Köpfen stattfindet, sodann sicherlich in Gesprächen, in Monologen, Nachfragen und Antworten, überdauern die Resultate und Spuren dieses Tuns fast ausschließlich in schriftlichen Zeugnissen. Genauer: nur bei schriftlich erhaltenen Texten können wir halbwegs sicher sein, dass sie durch Philosophieren zustande gekommen sind.

Selbst das ist weniger klar, als es zu sein scheint, etwa wenn wir uns selbstverständlich bei den Fragmenten von Heraklit oder Parmenides auf Zeugnisse eines frühen Philosophierens berufen. Ob den überlieferten Weisheiten tatsächlich tiefe und kritische Reflexion über die Welt, die Gesellschaft und das menschliche Leben vorausging oder ob es sich um großartige, aber spontan-intuitive Einfälle kluger Menschen handelt, denen erst Spätere eine philosophische Relevanz bemaßen, ist ungewiss – was man allerdings auch über spätere umfangreiche Werke großer Denker sagen kann. Das Ringen, das kritische und selbstkritische Durchdenken des Gedachten, das Diskutieren von Ideen mit Gleichgesinnten, das Verwerfen und Wiederaufnehmen von Gedanken, die sich in diesem Prozess schließlich zu einem konsistenten Ganzen ordnen, merkt man einem Traktat oder auch einer Monographie nicht unbedingt an.

Deshalb können auch die Zeugnisse früherer Schriftkulturen, etwa die Lebensmaximen des Ptahhotep aus dem Alten Ägypten Ergebnisse philosophischen Denkens und Disputierens sein, auch wenn sie uns heute als bloße Aufzählung von Lebensweisheiten erscheinen.

Das gleiche gilt selbstverständlich für Geschichten, Weisheiten, Metaphern, Sprichworte und Gleichnisse, die nur mündlich überliefert sind. Können sie auch nicht für sich genommen als Philosophie gelten, so ist es doch denkbar, dass sie Spuren eines echten Philosophierens im Sinne eines reflektierten, kritischen, im gewissen Sinne Systematischen Durchdenkens des Selbstverständlichen, sind, eines Denkens, das Selbstverständliches in Frage stellt, prüft, auf seine hingenommenen Voraussetzungen hin abklopft und in ein Gesamtverständnis von Welt und Mensch einzuordnen sucht.

Philosophiert wird […], weil eben manche Leute meinen, es ginge nicht ohne, weil sie denken, es würde zu viel drauflosgehandelt und zu wenig innegehalten.

Somit könnte es also sein, dass Menschen immer schon, seitdem sie denken und sprechen können, auch philosophiert haben, dass es unter ihnen immer solche gab, die mit dem alltäglichen Verständnis nicht zufrieden waren, die Gründe des Verstehens und Handelns gesucht und in Frage gestellt haben. Umgekehrt muss man allerdings auch eingestehen, dass das Philosophieren keine notwendige Tätigkeit des Menschen ist, dass philosophisches Denken auch heute, in der modernen Welt, weder selbstverständlich ist noch zwingend für geboten gehalten wird. Nicht nur gibt es auch in der schriftlich gut überlieferten Geschichte immer Zeiten und Gegenden, aus denen kaum Spuren des Philosophierens bekannt sind – und in denen die Menschen dennoch prächtig zurecht gekommen sind – auch hier und heute hat das philosophische Denken im Sinne des kritischen Befragens der allgemein akzeptierten Selbstverständlichkeiten einen schweren Stand. Zwar sitzen Vertreter der akademischen Philosophie in Talkshows und Beratergremien, aber ob das, was sie dort beitragen, immer Ergebnis philosophischer Reflexion ist, ist ungewiss, ebenso, ob das Publikum oder die, die beraten werden sollen, an Philosophie in diesem Sinne überhaupt interessiert sind.

Philosophiert wird dennoch, weil eben manche Leute meinen, es ginge nicht ohne, weil sie denken, es würde zu viel drauflosgehandelt und zu wenig innegehalten und selbstkritisch bedacht, was nach allgemeiner Meinung so offensichtlich doch getan werden muss. Ein solches Denken soll in dieser Kolumne gepflegt werden. Die Hoffnung ist, dass dadurch sichtbar wird, wozu es auch notwendig ist.

Jörg Phil Friedrich

Von Jörg Phil Friedrich erschien bei Alber Der plausible Gott und Ist Wissenschaft, was Wissen schafft?. Er schreibt regelmäßig philosophische Kurzessays und Rezensionen, u.a. in der Wochenzeitung Der Freitag und in der Tageszeitung WELT sowie in human, dem neuen Magazin für Intelligenz und Zukunft.

Die Kolumne

In seiner Kolumne Reflexe wird er hier monatlich Anregungen zur philosophischen Reflexion geben, die auf alltäglichen, politischen oder gesellschaftlichen Erfahrungen beruhen.