Die Kolumnenreihe mit Jörg Phil Friedrich
Wann wird philosophiert?
Ob Menschen an Orten und zu Zeiten philosophiert haben, aus denen wir keine schriftlichen Zeugnisse haben, kann man kaum beurteilen. Auch wenn das Philosophieren vor allem in Köpfen stattfindet, sodann sicherlich in Gesprächen, in Monologen, Nachfragen und Antworten, überdauern die Resultate und Spuren dieses Tuns fast ausschließlich in schriftlichen Zeugnissen. Genauer: nur bei schriftlich erhaltenen Texten können wir halbwegs sicher sein, dass sie durch Philosophieren zustande gekommen sind.
Selbst das ist weniger klar, als es zu sein scheint, etwa wenn wir uns selbstverständlich bei den Fragmenten von Heraklit oder Parmenides auf Zeugnisse eines frühen Philosophierens berufen. Ob den überlieferten Weisheiten tatsächlich tiefe und kritische Reflexion über die Welt, die Gesellschaft und das menschliche Leben vorausging oder ob es sich um großartige, aber spontan-intuitive Einfälle kluger Menschen handelt, denen erst Spätere eine philosophische Relevanz bemaßen, ist ungewiss – was man allerdings auch über spätere umfangreiche Werke großer Denker sagen kann. Das Ringen, das kritische und selbstkritische Durchdenken des Gedachten, das Diskutieren von Ideen mit Gleichgesinnten, das Verwerfen und Wiederaufnehmen von Gedanken, die sich in diesem Prozess schließlich zu einem konsistenten Ganzen ordnen, merkt man einem Traktat oder auch einer Monographie nicht unbedingt an.
Deshalb können auch die Zeugnisse früherer Schriftkulturen, etwa die Lebensmaximen des Ptahhotep aus dem Alten Ägypten Ergebnisse philosophischen Denkens und Disputierens sein, auch wenn sie uns heute als bloße Aufzählung von Lebensweisheiten erscheinen.
Das gleiche gilt selbstverständlich für Geschichten, Weisheiten, Metaphern, Sprichworte und Gleichnisse, die nur mündlich überliefert sind. Können sie auch nicht für sich genommen als Philosophie gelten, so ist es doch denkbar, dass sie Spuren eines echten Philosophierens im Sinne eines reflektierten, kritischen, im gewissen Sinne Systematischen Durchdenkens des Selbstverständlichen, sind, eines Denkens, das Selbstverständliches in Frage stellt, prüft, auf seine hingenommenen Voraussetzungen hin abklopft und in ein Gesamtverständnis von Welt und Mensch einzuordnen sucht.