Reflexe #3

23.04.2024

Reflexe #3

Die Kolumnenreihe mit Jörg Phil Friedrich

Das Dilemma der abendländischen Philosophietradition

Wer ernsthaft Philosophie betreiben will, befindet sich in einem Dilemma, und das Problem ist, dass man dieses Dilemma vielleicht erst bemerken kann, wenn es fast schon zu spät ist. Philosophieren ist ein kritisches Neudurchdenken der Welt, in der man sich vorfindet, doch wie dieses Neudurchdenken vonstattengehen kann, erfährt man auch dadurch, dass man nachvollzieht, wie andere, frühere Philosophierende es versucht haben. Nun gibt es so große, gewaltige Denkwege in der philosophischen Tradition, und so viele, die sich an den zentralen Werken des philosophischen Denkens abgearbeitet haben, dass man meint, man könne gar nicht anders, als diesen Wegen zu folgen. Noch schlimmer: beim Nachvollziehen dieser Wege ist man so gefangen, so überwältigt von den denkerischen Leistungen und Methoden dieser Giganten, dass es den Anschein hat, es gäbe jenseits der großen Traditionen des philosophischen Denkens gar keinen möglichen Weg der kritischen Welterschließung. Wir stehen auf den Schultern von Riesen, heißt es oft. Ute Guzzoni schreibt in ihrem anregenden Buch „Philosophieren. Wider Theorie und Begründungszwang“ (Alber 2023), in dem sie selbst nach neuen Wegen des Philosophierens sucht, dass wir „in der Philosophie grundsätzlich nie neu anzufangen“ vermögen, denn „das schon Gedachte stellt den Boden dar, auf dem wir im Weiterdenken aufbauen können und oftmals müssen.“ Aber womöglich ist das nur die halbe Wahrheit, vielleicht ist dieser Boden auch ein zäher Schlamm, ein Morast, der uns festhält und nicht entkommen lässt. Es könnte sein, dass dieser Boden uns nicht nur hält, sondern uns auch die möglichen Wege, die gegangen werden können, so unentrinnbar vorgibt, dass es uns kaum möglich oder sinnvoll scheint, davon abzuspringen.

Die allgemein verbreitete und auch von Guzzoni vertretene These, dass die Zeit der großen Systeme und Entwürfe vorbei sei und den Philosophierenden heute eigentlich nur noch bleibt, über das Erstaunliche, Einzelne, Unsystematische, Widersprüchliche in der Welt nachzudenken, kann in diesem Feststecken in den großen Traditionen ihren Grund haben. Natürlich ist uns die Selbstgewissheit abhandengekommen, die „abendländische Philosophie“ und mit ihr die europäische Aufklärung und der wissenschaftlich-technische Fortschritt könnten mit ihren großen Systemen nicht nur alles am besten erklären, sondern auch noch zur sicheren Grundlage für Frieden, Fortschritt und Demokratie auf der ganzen Welt werden. Zudem ist es hohe Zeit, anzuerkennen, dass große und tiefe philosophische Gedanken nicht nur in der zweieinhalb Jahrtausende währenden westlichen Denktradition, sondern überall auf der Welt mit ganz unterschiedlichen Ansätzen möglich sind. Aber das muss ja nicht heißen, dass die Geschichte der großen, konsistenten Philosophiesysteme überhaupt seit Hegel auserzählt ist.

Man könnte natürlich zur Bescheidenheit aufrufen und sagen, es sei doch, auf dem sicheren Fundament und dem fruchtbaren Boden der abendländischen Philosophie noch viel zu tun und zudem darauf verweisen, dass der komplizierte Alltag der modernen Gesellschaften uns doch mehr als genug zu denken und kritisch zu reflektieren gäbe. Welchen Grund sollte es geben, sich an große Entwürfe des Weltverstehens zu wagen – zumal die Aussicht auf Drittmittelförderung wegen mangelnder Interdisziplinarität gering sein dürfte?

Die Antwort ist einfach:

Die grundlegende Verunsicherung des modernen Menschen in der globalen Welt verlangt danach, eine grundsätzliche Selbstbestimmung dieses menschlichen Daseins wenigstens zu versuchen.

Jörg Phil Friedrich

Die Tatsache, dass wir in eine Gemeinschaft hineingestellt sind und uns doch als Individuum erleben, dass wir unsere gesellschaftliche Welt nur deutend und nur mit Bezug auf Andere erleben und dass wir nur gestaltend mit ihr umgehen können, das sind bleibende Erfahrungen, auf welche historische oder geografische Situation wir auch schauen. Dafür konsistente philosophische Konzepte zu entwickeln, die nicht nur auf das Besondere der jeweiligen Lage passen, sondern die den Anspruch haben, generalisierbar zu sein, ist gerade ein Mittel, mit dem wir uns aus der globalen Verunsicherung lösen können. Diese Loslösung muss aber, gerade für Philosophierende in der abendländischen Tradition, auch der Versuch eines Absprungs aus dem vertrauten Boden sein.

Wie aber kann das gehen? Wie können wir philosophieren lernen und der Gefahr entgehen, uns von unseren Traditionen fesseln zu lassen? Die philosophische Lehre selbst muss versuchen, sich zu revolutionieren. Vom ersten Tag des Studiums an musste sie einüben, jedes bisherige Denken in seiner Fesselung an die Tradition, in seiner Beschränktheit und seinem Angebundensein zu begreifen. Kurz gesagt, wir müssen uns von der Metapher des Bodens verabschieden, wir müssen lernen, unsere abendländische Tradition eher als einen schwankenden, zähen, stellenweise morastigen Grund zu sehen, und das Denken, das wir einüben, nicht als Fortsetzung der großen Traditionen, sondern als ständigen Versuch, sich gerade aus diesen Traditionen zu befreien.

Jörg Phil Friedrich

Von Jörg Phil Friedrich erschien bei Alber Der plausible Gott und Ist Wissenschaft, was Wissen schafft?. Er schreibt regelmäßig philosophische Kurzessays und Rezensionen, u.a. in der Wochenzeitung Der Freitag und in der Tageszeitung WELT sowie in human, dem neuen Magazin für Intelligenz und Zukunft.

Die Kolumne

In seiner Kolumne Reflexe gibt er hier monatlich Anregungen zur philosophischen Reflexion geben, die auf alltäglichen, politischen oder gesellschaftlichen Erfahrungen beruhen.