Die Kolumnenreihe mit Jörg Phil Friedrich
Das Dilemma der abendländischen Philosophietradition
Wer ernsthaft Philosophie betreiben will, befindet sich in einem Dilemma, und das Problem ist, dass man dieses Dilemma vielleicht erst bemerken kann, wenn es fast schon zu spät ist. Philosophieren ist ein kritisches Neudurchdenken der Welt, in der man sich vorfindet, doch wie dieses Neudurchdenken vonstattengehen kann, erfährt man auch dadurch, dass man nachvollzieht, wie andere, frühere Philosophierende es versucht haben. Nun gibt es so große, gewaltige Denkwege in der philosophischen Tradition, und so viele, die sich an den zentralen Werken des philosophischen Denkens abgearbeitet haben, dass man meint, man könne gar nicht anders, als diesen Wegen zu folgen. Noch schlimmer: beim Nachvollziehen dieser Wege ist man so gefangen, so überwältigt von den denkerischen Leistungen und Methoden dieser Giganten, dass es den Anschein hat, es gäbe jenseits der großen Traditionen des philosophischen Denkens gar keinen möglichen Weg der kritischen Welterschließung. Wir stehen auf den Schultern von Riesen, heißt es oft. Ute Guzzoni schreibt in ihrem anregenden Buch „Philosophieren. Wider Theorie und Begründungszwang“ (Alber 2023), in dem sie selbst nach neuen Wegen des Philosophierens sucht, dass wir „in der Philosophie grundsätzlich nie neu anzufangen“ vermögen, denn „das schon Gedachte stellt den Boden dar, auf dem wir im Weiterdenken aufbauen können und oftmals müssen.“ Aber womöglich ist das nur die halbe Wahrheit, vielleicht ist dieser Boden auch ein zäher Schlamm, ein Morast, der uns festhält und nicht entkommen lässt. Es könnte sein, dass dieser Boden uns nicht nur hält, sondern uns auch die möglichen Wege, die gegangen werden können, so unentrinnbar vorgibt, dass es uns kaum möglich oder sinnvoll scheint, davon abzuspringen.
Die allgemein verbreitete und auch von Guzzoni vertretene These, dass die Zeit der großen Systeme und Entwürfe vorbei sei und den Philosophierenden heute eigentlich nur noch bleibt, über das Erstaunliche, Einzelne, Unsystematische, Widersprüchliche in der Welt nachzudenken, kann in diesem Feststecken in den großen Traditionen ihren Grund haben. Natürlich ist uns die Selbstgewissheit abhandengekommen, die „abendländische Philosophie“ und mit ihr die europäische Aufklärung und der wissenschaftlich-technische Fortschritt könnten mit ihren großen Systemen nicht nur alles am besten erklären, sondern auch noch zur sicheren Grundlage für Frieden, Fortschritt und Demokratie auf der ganzen Welt werden. Zudem ist es hohe Zeit, anzuerkennen, dass große und tiefe philosophische Gedanken nicht nur in der zweieinhalb Jahrtausende währenden westlichen Denktradition, sondern überall auf der Welt mit ganz unterschiedlichen Ansätzen möglich sind. Aber das muss ja nicht heißen, dass die Geschichte der großen, konsistenten Philosophiesysteme überhaupt seit Hegel auserzählt ist.
Man könnte natürlich zur Bescheidenheit aufrufen und sagen, es sei doch, auf dem sicheren Fundament und dem fruchtbaren Boden der abendländischen Philosophie noch viel zu tun und zudem darauf verweisen, dass der komplizierte Alltag der modernen Gesellschaften uns doch mehr als genug zu denken und kritisch zu reflektieren gäbe. Welchen Grund sollte es geben, sich an große Entwürfe des Weltverstehens zu wagen – zumal die Aussicht auf Drittmittelförderung wegen mangelnder Interdisziplinarität gering sein dürfte?
Die Antwort ist einfach: